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BILDER ALS VERSUCHSBALLONS – SCHWERELOS

Eckhart J. Gillen

 

Das Betrachten von Tanja Zimmermanns Bildern ist ein die Sinne belebendes Vergnügen. Sie können ein leicht getupftes farbiges Gespinst aus blassen, dann wieder leuchtenden Farben sein (Liniengewebe, 2013). Mal sind die Farben opak, mal dünnflüssig transparent aufgetragen, mal zeichnet ihr Pinsel linear und abstrahierend, dann wieder assoziiert er Figuren.

Tanja Zimmermann arbeitet spielerisch die Medien wechselnd, mit Leinwand und Ölfarbe, selbstgeschöpften Papieren, Aquarell, Pastell und Buntstiften, sie nutzt die Technik der Collage, verwendet Fundstücke wie Postkarten, Stoffe, Strickmuster, Land- und Seekarten oder Zeitungsseiten, die sie transparent übermalt. Ihre Bilder evozieren Landschaften (Kirschblüte, 2010), ziehende Wolken (2013), Wasser (2009), Sonnensegel (2011), Morgen (Ein Morgen für J., 2009), Abend (2008), Boote (Übermalte Boote, 2013), Hafen (2013) oder einfach die Ferne (2011).

Im Vergleich zu den 1990er Jahren, in denen viele ihrer Arbeiten noch von der Dichte, Kompaktheit und Schwere der Dresdner Malschule bestimmt waren und keine Lücke auf der Fläche offen ließen, schweben Tanja Zimmermanns Bilder jenseits der Jahrtausendwende wie leuchtende Ballons schwerelos im Raum. Sie balancieren instinktsicher zwischen Leere und Fülle (Titel einer Bilderserie), wirken wie ›geöffnete Fenster‹ aus dem

Innenraum ihres Ateliers hinaus in die Ferne, in die Welt, der ihre Sehnsüchte gelten. Sie sind voller Lebensfreude, mit einer Vorliebe für leuchtendes Rot, für strahlendes Gelb und für ein Himmelsblau gemalt. Die Vorhänge für ein verwunschenes Himmelbett (2010) sind weit geöffnet. Bunte Farbkugeln (2011) werden wie Ballons von farbigen Bändern am Wegfliegen gehindert und stehen für schiere Sinnenfreude. Tanja Zimmermanns Zeichnungen, Aquarelle und Collagen spüren einer der nördlichen Schwermut entgegen gesetzten, unbefangenen Lebensart nach. Manche ihrer Arbeiten erinnern an die Direktheit und Unverstelltheit von Kinderzeichnungen.

Vielfältige Spuren haben ihre Reisen, z.B. nach Andalusien (1998), Gotland (2006), Japan (2008) und Island (2012) auf ihren Bildern hinterlassen. Unbewusst sucht sie malend und zeichnend in den Landschaftsbildern unterwegs Korrespondenzen zu ihren inneren Sehnsuchtslandschaften. Doch ihre Traumbilder werden immer wieder geerdet durch dunkle Töne, die sich z.B. auf dem Aquarell Ungleichgewichtig (2014) von rechts über die lichten Farbakkorde schieben. Berge und Inseln in lichten, fernwehblauen Tönen werden durch dunkle Rahmen in unerreichbare Ferne gerückt oder die Blicke in die Ferne, ins Leichte und Freie werden schwarz vergittert (Landebahn, 2010). Der Aufschwung, den die Seele nehmen will, landet unsanft auf einer schwarzen Piste.

Die romantische Liebe zum Fragment, zum Unfertigen, das die dicht gefüllten Flächen (z.B. Herzblut, 1994; Römisch eins, 1996) vieler ihrer früheren Arbeiten ablöst, birgt das Risiko des Scheiterns. Aber das Scheitern ist ein Signum der Romantik und der Moderne, es ist aufregender als das Gelingen. Ihre Bilder werden zu Momentaufnahmen der eigenen Existenz, gespiegelt in den Häusern, Landschaften und Menschen, mit denen sie kommuniziert. Die in ihre Bilder einmontierten Fundstücke wirken da wie Verankerungen in das Reale.

Im Gespräch sagt sie: »Ich habe mich natürlich auch in vielen Aspekten der romantischen Weltsicht wiedererkannt, dieses Auflösen aller inneren Fesseln, wenn es denn auf Reisen geht, der Prozess des Sich-Selbst-Entdeckens dabei.« 1

Am Beginn der Romantik erlebte Johann Gottfried Herder 1769 bei seiner Einschiffung in Riga mit unbekanntem Ziel auf der Ostsee eine ihn selbst überraschende innere Umkehr, ein Wechsel des Seinszustandes von der Sesshaftigkeit zur fließenden Bewegung, vom überschaubaren Lebensraum zur Weite und Ungewissheit. In sein Reisejournal notiert er: »Was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphären zu denken!

Alles gibt hier den Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! Das flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom, die fliegende Wolke, der weite unend liche Luftkreis! Auf der Erde ist man an einen toten Punkt angeheftet und in den engen Kreis einer Situation eingeschlossen…« 2

Wie für Herder wirken auch für Tanja Zimmermann die Reisen als ein Echo der eigenen Kindheit, »so als wäre das […] die erste Stimmung der Seele, der erste Anstoß von Empfindung gewesen.« 3

Die Reise im Sinne der Romantiker ist ein stetes Unterwegssein zu sich selbst. Sie wird so zur Metapher auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Mit ihrer künstlerischen Arbeit erforscht Tanja Zimmermann ihre mentalen Kräfte und seelischen Tiefen. In diesem Prozess wird der Künstler, wie Arthur Rimbaud behauptet hat, »der höchste Wissende! Und zwar, weil er beim Unbekannten ankommt.« 4

In diesem Geiste der Romantik probiert Tanja Zimmermann Neuanfänge, von denen sie weiß, dass sie stets absturzgefährdet sind. Im Gespräch verriet sie einmal: »Das sind authentische Geschichten, die da auf meinen Bildern ablaufen und mir im wirklichen Leben passieren. Ich merke mit allen Fasern meines Körpers, ob das Bild mit dem übereinstimmt, was mich gerade umtreibt oder wie die Welt mir gerade entgegen tritt.« 5

Alle ihre Lebensstationen und Reisen haben tatsächlich Spuren hinterlassen in ihren Bildern, seien es die gerasterten Fassaden der Plattenbauten in der Rostocker Südstadt, das Ambiente, in dem Tanja Zimmermann seit Mitte der 1960er Jahre aufgewachsen ist. Die atmosphärischen Stimmungen, das Fernweh und die Sehnsuchtsmotive in ihren Bildern sind nicht in Worte zu fassen. Sie finden aber ihre sprachliche Äquivalenz in Gedichten, zuletzt in denen von Mark Strand, den sie 1990 zum ersten Mal traf und mit dem sie sich seither über ihre gemeinsame poetisch-visuelle Sprache bis zu seinem Tod im letzten Jahr austauschte. Wie in Tanja Zimmermanns Bildern, so spricht auch in den Gedichten von Mark Strand ein ›Ich‹ von sich, ganz unprätentiös, ganz persönlich, ohne je unvermittelt privat zu werden:

»Tell yourself / as it gets cold and gray falls from the air / that you will go on / walking, hearing / the same tune no matter where / you find yourself – / inside the dome of dark / or under the cracking white / of the moon’s gaze in a valley of snow. / Tonight as it gets cold / tell yourself / what you know which is nothing / but the tune your bones play / as you keep going. And you will be able / for once to lie down under the small fire / of winter stars. / And if it happens that you cannot / go on or turn back / and you find yourself / where you will be at the end, / tell yourself / in that final flowing of cold through your limbs / that you love what you are.« (Mark Strand, Lines for Winter)

Tanja Zimmermanns Bilder und Mark Strands Gedichte sind gleichermaßen ernste und heitere Sondierungen, Selbstinfragestellungen, ohne tiefsinnige, gequälte, dunkle Me taphern. So wie Tanja Zimmermann ihre Bilder von inhaltlichem und formalen Ballast befreit, um sie zum Schweben zu bringen, so leert Mark Strand buchstäblich seine Taschen und Schuhe, stellt die Uhr zurück und öffnet das Familienalbum, um sich selbst wieder als Jungen zu sehen. »I empty my life and my life remains.« 6

Mark Strands Gedichte und Tanja Zimmermanns Kompositionen versuchen das Flüchtige und Fragmentarische unserer Wahrnehmung immer wieder in eine fragile Balance zu bringen, die auf einer intuitiven Erfahrung im Umgang mit der Ordnung der Dinge beruht. Seine Gedichte und ihre Bilder sind Echos einer Suche nach der verlorenen Kindheit, in der man sich, so Tanja Zimmermann, das Leben vielleicht einmal »voller Optimismus und Freude, ohne Angst« vorgestellt hat. Das Bewusstsein, dass wir aus dem Paradies vertrieben wurden, d.h. aus der Geborgenheit im Naturzusammenhang, ist in diesen Blättern und Zeilen stets zu spüren. Feiern wir dennoch das Leben und vergessen wir das Ende nicht:

The End
Not every man knows what he shall sing at the end,
Watching the pier as the ship sails away, or what it will seem like
When he’s held by the sea’s roar, motionless, there at the end,
Or what he shall hope for once it is clear that he’ll never go back.
When the time has passed to prune the rose or caress the cat,
When the sunset torching the lawn and the full moon icing it down
No longer appear, not every man knows what he’ll discover instead.
When the weight of the past leans against nothing, and the sky
Is no more than remembered light, and the stories of cirrus
And cumulus come to a close, and all the birds are suspended in flight,
Not every man knows what is waiting for him, or what he shall sing
When the ship he is on slips into darkness, there at the end.

 

 

1 Tanja Zimmermann in einer e-mail an den Vf. vom 21.12.2014.
2 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Werke Bd. I, München 1984, zit. n. Rüdiger Safranski,
Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, S. 17f.
3 Herder, zit. n. Jürgen Manthey, Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München 2005, S. 234.
4 Arthur Rimbaud, OEuvres complètes, èd. par Antoine Adam, Paris 1972, S. 251. Zit. n. Armin Zweite, Ich ist etwas Anderes,
in: Ausst.kat. »Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts«, Düsseldorf 2000, S. 28f.
5 Interview mit Holger Stark, Galerie wolkenbank, in: Katalog »Seid ihr alle da?!!«, Rostock 2011, S. 16.
6 Mark Strand, »The Remains: I empty myself of the names of others. I empty my pockets. / empty my shoes and leave them
beside the road. / At night I turn back the clocks; / open the family album and look at myself as a boy.
What good does it do? The hours have done their job. / say my own name. I say goodbye. / The words follow each other
downwind. / I love my wife but send her away.
My parents rise out of their thrones / into the milky rooms of clouds. How can I sing? / Time tells me what I am.
I change and I am the same. / empty myself of my life and my life remains.«